Das Kreuz Christi hat für das Leben und das Werk des hl. Kamillus eine fundamentale Bedeutung. War nicht sein Leben in dem bekannten Traum seiner Mutter Camilla bereits schon prophetisch vorgezeichnet? Dieser Traum hatte ihr großen Schmerz bereitet. Das Kind in dem Traum konnte nur ihr eigener Sohn sein. Das Kreuz auf dem Banner und die Gruppe von jungen Menschen, die ihm folgten, auch sie mit dem Kreuz, was konnte das bedeuten? Etwa irgendwelche Verbrechen oder Strafen, schlimme Taten und Verfolgung durch die Gerichtsbehörden?
Camilla erlebte es nicht mehr, wie sich ihr Traum erfüllte. Ein Traum, der sich im entgegengesetzten Sinn verwirklichte. Betrachtet man ausschließlich die ersten 25 Jahre des Lebens des Kamillus, lag eine pessimistische Auslegung nahe. Was konnte man sich schon von einem rebellischen jungen Mann und undisziplinierten Soldaten erwarten?
Aber seit Kamillus auf dem Weg nach Manfredonia von der Gnade berührt wurde, änderten sich die Dinge. In diesem Augenblick begann sein Leben mit dem Gekreuzigten. Kamillus hatte die Illusion, dass er ihm im harten Büßerleben im Kapuzinerorden begegnen könnte, in der Nachfolge des Franz von Assisi. Er brauchte Zeit, um zu entdecken, dass ihn sein Christus in den Spitälern erwartete. Die Zeit und die Schwierigkeiten gemeinsam mit den Verfolgungen, die er erfuhr, halfen ihm, die Gegenwart des Gekreuzigten in seinem Leben zu entdecken.
Als dann alles verloren schien, öffneten sich ihm neue Wege. Kamillus hatte einige Krankenpfleger und einen Priester um sich versammelt, mit dem Zweck, den Kranken im Spital San Giacomo in Rom selbstlosen Beistand zu leisten. Kamillus konnte nicht verstehen, warum die Krankenhausleitung ihn zwingen wollte, sich zurückzuziehen, anstatt diese Gruppe, die ja einen besseren Dienst leisten wollte, zu unterstützen. Hier muss auch der hl. Philipp Neri genannt werden, der ihn veranlassen wollte, mit „dieser Dummheit“ aufzuhören.
Und das war dann der Zeitpunkt, wo der gekreuzigte Heiland eingriff. Es handelt sich hier um einen ganz entscheidenden Augenblick im Leben des hl. Kamillus. Man kann nicht annehmen, dass es nur ein Traum war, denn Kamillus war davon äußerst beeindruckt. Dabei fühlte er sich wirklich entmutigt und brauchte einen starken Ansporn, eine Stimme, die nicht eingebildet, sondern real war und die er hören konnte, von einer Gestalt, die nicht eingebildet war, sondern die er wirklich sehen konnte. Und er sah sie auch. Es war das Kreuz des kleinen Oratoriums. Er sah es, wie es sich bewegte: Der Gekreuzigte sprach zu ihm!
Er sagte: „Hab keine Furcht, du Kleinmütiger. Setze damit fort, denn dies ist mein Werk und nicht das deine.“ Der „Mann am Kreuz“ übernimmt dieses Werk und führt es weiter. Er macht es zu seinem Werk. Die Augen des Kamillus, die den Gekreuzigten sich bewegen sahen, waren erregt, er war fassungslos. Von diesem Augenblick an sah Kamillus in jedem Kranken den leidenden Christus. Ja, es war wahr: „Das habt ihr mir getan.“
Welches Erkennungszeichen eignete sich deshalb besser für seine Ordensleute als das flammende rote Kreuz auf dem Talar und auf dem Mantel? An der Aufrichtigkeit seiner Worte in der „Lebensformel“ ist nicht zu zweifeln: „Ein jeder muss es als ein hohes Gut erachten, für den Gekreuzigten, unseren Herrn, zu sterben.“ Er empfahl seinen Ordensleuten: „Wenn ihr den Kranken beisteht, sprecht nicht zu viel. Erinnert sie vor allem an das Leiden unseres Herrn Jesus Christus.“ Häufig hielt er das Kreuz dem Kranken vor die Augen und reichte es ihm zum Kuss. „Rufen wir – so empfahl er seinen Ordensleuten – das allerheiligste Leiden unseres Herrn und sein Blut an, das zu unserem Heil vergossen wurde.“
Mit großer Freude zeigte er, als er schon Priester war, bei seiner Rückkehr nach seinem Heimatort Bucchianico, den er einige Jahre zuvor für einen ausschweifenden Lebensabschnitt verlassen hatte, das flammende Kreuz auf seinem Talar und sagte: „Ja, das ist das Kreuz, das meine Mutter als Zeichen für den Verlust und den Verderb unserer Familie gehalten hatte. Und nun schau, wie Gott es in die Auferstehung so vieler und in den Lobpreis seiner Ehre verwandelt hat. Wie verschieden ist doch das Denken Gottes von dem der Menschen!“
Er gab einem Maler den Auftrag, ein Bild des Gekreuzigten zu malen, und meinte, „dass aus den Wunden viel Blut fließen solle, damit ich, wenn ich eine solche Menge Blut sehe, eine umso größere Hoffnung auf mein Heil habe.“ Ohne davon zu wissen, stellte der Künstler ihn selbst zu Füßen des Kreuzes dar und schrieb auf seine Lippen die Worte: „Verzeih, Herr, deinem Diener, den du durch dein kostbarstes Blut erlöst hast.“ Als Kamillus sah, dass auch er selbst abgebildet war, war er sehr erregt, meinte dann aber: „Herr, das war nicht meine Absicht, aber da du es so gewollt hast, bedeutet es, dass ich noch größere Hoffnung auf dein Erbarmen zu mir haben soll.“
Eines Tages überraschte ihn P. Crotoni, wie er gerade mit dem Kreuz sprach, das er in seinen Händen hatte. „Was machst du, Pater?“ – „Ich warte auf die gute Nachricht des Herrn. Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters: Ich war krank und ihr habt mich besucht.“ Es ist wahr: In der Gestalt des Kranken besuchte und blickte er tausende Male auf dieses Kreuz, an dem der Heiland die Arme bewegt hatte, um ihm Mut zu machen. Wie bei Kamillus steht auch bei uns noch immer das Kreuz im Mittelpunkt unserer Spiritualität. Der Dienst an den Kranken ist durch das Kreuz gekennzeichnet, Verständnislosigkeit, Feindseligkeit, Mutlosigkeit und Krisen. Das Kreuz macht uns neuen Mut und stärkt uns in unserer Sendung. „Hab keine Furcht, Kleingläubiger, mach weiter, denn das ist mein Werk und nicht deines.“
Der Gekreuzigte hilft uns, dass wir aus uns selbst heraustreten, dass wir Vertrauen haben in einen Gott, der Herr auch über das Unmögliche ist, und dass wir mehr Vertrauen in ihn haben als in unsere eigenen Möglichkeiten: „Meine Gnade genügt dir“ (2 Kor 12,9).
Das Kreuz mahnt uns auch und stellt uns selbst in Frage, wenn wir jeden Tag so viele gekreuzigte Menschen sehen, in ihrem Leiden ans Bett gebunden, in Einsamkeit, Verlassenheit und Krankheit. Wir werden aufgefordert, sie von ihrem Kreuz herabzunehmen, sie zu befreien und zu trösten. Die Spiritualität des Kreuzes ist keine jammernde, schmerzbetonte Spiritualität, sie motiviert uns vielmehr zu unserem Dienst: eine Spiritualität, die Hoffnung und Leben weckt, eine Spiritualität österlicher Auferstehung.
Welche Bedeutung hatte der Gekreuzigte im Leben des hl. Kamillus?
Als er daran dachte, eine „Gruppe von guten Laien zusammenzurufen, um Gott zu verherrlichen und den Dienern der Kranken in ihren Bemühungen zu helfen“, nannte er sie „Kongregation vom Allerheiligsten Kreuz“.
Da ihm der Gekreuzigte in den schwierigen Zeiten der Gründung und auch später geholfen hatte, würde er ihm bei jenem endgültigen Schritt ebenso helfen, vor dem er sich immer etwas gefürchtet hatte: der Sprung, so pflegte er zu sagen, von diesem in das andere Leben. Wem anderen sollte man sich hier anvertrauen als dem Gekreuzigten?
„Auf dem Weg trafen sie einen Mann aus Cyrene namens Simon; ihn zwangen sie, Jesus das Kreuz zu tragen. So kamen sie an den Ort, der Golgota genannt wird, das heißt Schädelhöhe.Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht, die seine Schuld angab: Das ist Jesus, der König der Juden. Zusammen mit ihm wurden zwei Räuber gekreuzigt, der eine rechts von ihm, der andere links“ (Mt 27,32–38).
Herr Jesus, du rufst uns zu deiner Nachfolge
auf dem Weg des Kreuzes.
Du stößt unsere Träume und Vorhaben um
und bist trotzdem unser Friede ...
Nimm uns an mit unseren Ängsten und Zweifeln ...
Empfange unsere demütige Liebe,
die nur das Wenige geben kann,
was wir sind und was wir haben.
Wende dich zu uns und wir wenden uns zu dir
und lassen uns dorthin führen,
wohin wir vielleicht nicht möchten,
wohin du uns aber vorausgegangen bist
und wo du auf uns wartest,
um aus der Armseligkeit unseres Lebens und unseres
Leidens deine Geschichte mit uns zu machen.
Amen. Alleluja.
Bruno Forte
© Kamillianer 2013 - [Stand: 14.10.2013] Kapitel 7 Inhaltsverzeichnis zurück Kapitel 9