Die Situation, in der wir leben
Krankheit und Leiden jeglicher Art sind eine unübersehbare Realität. Wer ist schon ganz gesund und ohne jede Sorge? Wer leidet denn nicht an offenen oder verborgenen Wunden? Rund 40 Prozent aller Menschen in unserer heutigen Gesellschaft tragen akut an irgendeiner Behinderung, an einer Krankheit oder einem sonstigen Leiden, sind altersschwach oder psychisch krank, leiden unter gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen, sind drogen- oder medikamentenabhängig oder tragen schwer an der Sinnlosigkeit ihres Lebens. Darüber hinaus kommen auf jeden Akutkranken und Leidenden wenigstens zwei oder drei Angehörige, die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen sind und zu Mitleidenden werden.
Krankheit und Leid – eine Herausforderung für die Gesellschaft und Kirche
Dieses Leid schreit nach Abhilfe. Die Gesellschaft setzt zu seiner Linderung Krankenanstalten, therapeutische Teams mit Hilfen jeder Art, Medikamente, Wissenschaft und Ökonomie ein. Diese Hilfen sind unentbehrlich. Über sie hinaus sind aber vor allem menschliche Zuwendung und Anteilnahme gefordert. Buchstäblich notwendig zur Linderung der persönlichen Not des Herzens ist die Begegnung von Mensch zu Mensch, zur Beantwortung der Fragen nach dem Sinn des Daseins in Krankheit und Leid und als Hilfe in Einsamkeit, Isolation und existenzieller Not. Es ist die Seel-Sorge im weitesten Sinn des Wortes, nach der wir alle verlangen. Letztlich wollen wir nicht die Hilfe der menschlichen Gesellschaft, sondern den guten Menschen, der uns hier und jetzt zur Seite steht.
Die Sorge Christi für die Kranken und Leidenden
Gott hat sich in Christus des Leids angenommen. Christus hat sich persönlich dem Leid und den Leidenden gestellt. Er hat seine Kirche – die Christen in Gemeinschaft und einzeln – beauftragt und befähigt, sich der Leidenden anzunehmen. Die Kirche soll die Sorge Christi für die Kranken übernehmen und in seiner Vollmacht Heilung und Heil bringen.
Die Kranken sind dem verantwortlichen Seelsorger in der Gemeinde ans Herz gelegt, aber auch alle übrigen Mitglieder der Gemeinde tragen an diesem Auftrag mit. Wie sie ihn ausführen, ist zugleich ein gültiger Maßstab für ihre Christlichkeit.
Der hl. Kamillus – ein gelebter Weg der Sorge für die Kranken
Auf unserem Lebensweg brauchen wir Vorbilder. So zeigt uns Gott durch das Leben von Menschen, die in der Nachfolge Christi stehen, wie wir auf seine Liebe antworten und seinen Auftrag leben können. Die Heiligen sind Zeichen Gottes für unser Leben.
Der hl. Kamillus (1550–1614) ist ein solches Zeichen Gottes im Leid für die Leidenden. Er war selbst schwer krank und stand trotzdem Jahrzehnte hindurch im aktiven Einsatz an den Stätten der Kranken. Nach einem sinnlosen Leben als Berufssoldat erlebt er als 25-Jähriger seine Umkehr zu Gott. Er sucht zur Heilung einer nicht heilen wollenden Fußwunde ein Krankenhaus in Rom auf und wird aufmerksam auf die untragbaren Zustände in diesem Haus – wie auch im gesamten Gesundheitswesen seiner Zeit. Er versucht, eine Besserung der Zustände herbeizuführen. Als Krankenpfleger, als Krankenhausverwalter, als Seelsorger – mit 34 Jahren wurde er Priester –, als Leiter einer Gemeinschaft von Männern, die sich ihm anschließen und im Geiste Christi wie er den Kranken dienen wollen. Als damals wirksamsten Weg zu einer bleibenden Hilfe für die Kranken gründet er einen Männerorden für Krankenpflege und Krankenseelsorge – den heutigen Orden der Kamillianer. In ihm lebt Kamillus weiter. Sein Beispiel, seine Liebe zu den Kranken, seine Ideen, seine Organisationsformen werden durch seine Patres und Brüder und die später entstandenen Schwesterngemeinschaften bis heute weitergetragen. Die Liebe Christi zu den Kranken und Leidenden, seine Sorge für ihr Heil, ist ihre konkrete Lebensaufgabe.
Die Kamillianische Familie
Kamillus bringt nicht nur einen neuen Geist in die Krankenhäuser der Stadt Rom, er wird, besonders in Zeiten großer Seuchen, auch in weitere Städte und Orte gerufen, damit er sich dort um die Kranken kümmern sollte. Er hilft mit seinen Patres und Brüdern, aber er organisiert vor allem Hilfskräfte am Ort. Das Beispiel des Kamillus und seinen Gefährten wirkt dabei so ansteckend, dass auch die Vertreter der Stadt, ja selbst Bischöfe und Erzbischöfe Mitglieder dieser Teams werden und bei konkreten Pflegeeinsätzen in ihrem Distrikt persönlich Hand anlegen. Diese Idee und Form des Einsatzes in Gruppen vor Ort – lange Zeit in der Kirche und selbst im Kamillianerorden vergessen – lebt in unseren Tagen wieder auf. Sie erweist sich nach bisherigen Erfahrungen als äußerst ansprechende und wirksame Hilfe für die Leidenden in den Gemeinden. Ihre heutige konkrete Gestalt ist die so genannte Kamillianische Familie der Laien.
Wesen, Aufbau und Arbeitsweise der Kamillianischen Familie (KF)
Die KF ist eine Gruppe von etwa zehn bis zwanzig Personen – Kranke, Behinderte oder andere leidende Menschen, von ihren Angehörigen sowie von ganz Gesunden –, die im Geiste Christi nach dem Beispiel des hl. Kamillus in der eigenen Gruppe selbst helfen wollen, mit dem Leid fertig zu werden, die aber über ihre Gruppe hinaus auch Kranke und Leidende in ihrer Umgebung im Geist Christi betreuen. Die Mitglieder können Verheiratete oder Ledige sein, Priester oder Ordensleute, Junge oder Alte, Männer oder Frauen. Sie wissen sich von Gott gerufen, die Sorge Jesu für die Leidenden weiterzutragen: durch Gebet, durch Aufopferung ihres Lebens und Leidens und – wo es möglich ist – auch durch tätige Hilfe und konkreten Einsatz. Die Lebensgrundsätze und die Arbeitsweise der Kamillianer bilden dabei die Basis ihrer Spiritualität. Die Kamillianer leisten auch die nötige Starthilfe beim Aufbau der KF und bei der weiteren Arbeit.
Die Kamillianische Familie – enge Mitarbeiter des Seelsorgers
Die KF versteht sich als Helferteam des jeweiligen Gemeindeseelsorgers in seiner Sorge für die Kranken. Sie arbeitet mit ihm intensiv zusammen. Auch wenn der Gemeindeseelsorger nicht aktiv beteiligt ist (oder sein kann), weiß er um die KF in seinem Sprengel, der er seine konkreten Anliegen für die Kranken und Leidenden anvertrauen kann. Einzelne KF können auch aus Mitgliedern mehrerer Pfarreien bestehen. Auch in dieser Zusammensetzung verstehen sie sich als Helferinnen und Helfer der Seelsorger in der Pfarrei.
Jede Familie hat ihre besondere Prägung, ihr eigenes Klima, bisweilen auch ihr spezifisches Arbeitsfeld. So sind die KF eine willkommene und dankbare Konkretisierung der pfarrlichen Sozialausschüsse auf dem Gebiet der Krankenbetreuung.
Die Mitglieder einer KF treffen sich regelmäßig in Abständen von zwei bis sechs Wochen, je nach Möglichkeit. Bei diesen Treffen beten und meditieren sie miteinander, berichten über ihre Erfahrungen als religiöse Menschen und in ihrem sozialen Einsatz, geben Rechenschaft über ihre geleistete Aufgabe, die sie übernommen haben, erfahren in einem weiterführenden Hauptpunkt geistige und religiöse Vertiefung und übernehmen für die nächste Zeit bestimmte Aufgaben für die Leidenden in ihrer Umgebung. Auch ein geselliggemütlicher Teil gehört zum Treffen. Von Zeit zu Zeit wird dabei auch die hl. Eucharistie gefeiert. Ein solches Treffen dauert in der Regel etwa drei Stunden.
Über das Treffen hinaus stehen die Mitglieder einer KF miteinander in Verbindung durch gegenseitige Besuche, Telefonate, E-mails, Briefe usw.
Einfachste Organisation
Alles Organisatorische ist auf ein Minimum reduziert. An der Spitze steht der Leiter bzw. die Leiterin, dem oder der drei oder vier Assistenten zur Seite stehen. Die Mitgliedschaft bringt keinerlei finanzielle Verpflichtungen mit sich. Jede KF wird – meist von einem Kamillianer, einer Kamillianischen Schwester oder von einem Mitglied einer bereits bestehenden KF – nach dem vorliegenden ausgearbeiteten Plan für ihre Aufgabe eingeführt und ausgebildet. Diese Schulung besteht aus etwa sechs bis sieben Einheiten und erstreckt sich auf sechs bis neun Monate (oder sechs bis sieben Wochen). Dabei werden die Kommunikation in der Gruppe eingeübt, Gebet und Meditation gepflegt, nach den Intentionen Jesu bei seinen Begegnungen mit den Leidenden gefragt, das Beispiel des hl. Kamillus reflektiert und vor allem soziale und andere Hilfen für die Kranken eingeübt. Mit einer religiösen Feier wird das Einführungsprogramm beendet. Die Mitglieder der Familie sprechen dabei ein Gebet der Bereitschaft, in dem sie zum Ausdruck bringen, dass sie die Sorge Christi für die Leidenden zusammen mit ihrem Ortsseelsorger mittragen wollen. Bei diesem Anlass wählt die Familie oft auch ihren Leiter und das assistierende Team. Ab dieser religiösen Feier arbeitet die Familie selbstständig weiter, in regelmäßigen „Familientreffen“ und mit einem je verschieden gearteten, von den örtlichen und zeitlichen Umständen abhängigen Arbeitsprogramm. Sie bleiben weiterhin im Kontakt mit den Kamillianern und der großen kamillianischen Gemeinschaft. Durch die Kamillianer erhalten die Leiter und Assistenten der einzelnen KF bei regelmäßigen Begegnungen geistig-religiöse Anregungen. Dabei werden auch die Schwerpunkte der Jahresarbeit in den einzelnen Familien erarbeitet. Einige Male im Jahr werden für alle Mitglieder der Kamillianischen Familien Exerzitien, Seminare zur Glaubenserneuerung, gemeinsame Tage der Begegnung usw. veranstaltet. Die einzelnen Familien sind in einem Dachverband zusammengefasst, der so genannten Gemeinschaft der Kamillianischen Familien, die ein kirchlich anerkannter Verein ist. (Die Statuten siehe S. 171 ff.)
Derzeitiger Stand der Kamillianischen Familien
In den letzten Jahrzehnten konnten im mitteleuropäischen Raum über hundert KF gegründet werden. Auch in außereuropäischen Ländern gibt es die KF. Die Mitglieder in aller Welt wissen sich mit der großen Gemeinschaft des Kamillianerordens verbunden. So ist es abgesprochen: Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages, bei uns im deutschsprachigen Raum zur Zeit des Angelus-Läutens, denken alle Mitglieder der Kamillianischen Familie aneinander im Gebet. Der Einzelne, ob er als Schwerkranker im Bett liegt, ob er als Angehöriger eines Pflegeberufes dem Kranken dient, ob er als Angehöriger eines anderen Berufes zur KF gehört, weiß, dass jetzt viele an ihn denken, ihn im Gebet mittragen und vor Gott für ihn einstehen, und er weiß in diesem Augenblick, dass er mit seinem Gebet vor Gott auch anderen helfen kann.
Papst Benedikt XIV. hat zum Leben und Werk des hl. Kamillus gesagt, es sei „eine neue Schule der Nächstenliebe“ im Dienst an den Leidenden. Als solche ist die KF ein Angebot für die Pfarrseelsorger in ihrer Sorge für die Leidenden in ihrer Pfarrei. Die KF ist ein Angebot für Gesunde, die sich berufen fühlen und das Herz haben, die Sorge Christi für die Kranken mitzutragen und sich der Leidenden in ihrer Umgebung anzunehmen. Sie ist schließlich ein Angebot für die Kranken und Leidenden und ihre Familienangehörigen selbst, sich in ihrer schweren Situation mitgetragen zu wissen und mit ihrem Leid andere mitzutragen. Es ist eine Möglichkeit, ihr Leben und Leiden zum Segen für andere werden zu lassen.
© Kamillianer 2013 - [Stand: 16.10.2013] Kapitel Inhaltsverzeichnis zurück Teil 2, Kapitel 2