Nichts in den Evangelien zeigt deutlicher das Bedürfnis zu beten als die Bedeutung, die das Gebet im Leben Jesu hat. Jesus betete oft in der Einsamkeit auf einem Berg, auf den er sich zurückgezogen hatte, um eine lange Zeit zu beten. Während des Tages, als er von Ort zu Ort zog, dachte er zusammen mit seinen Aposteln oft an seinen Vater und betete oder sang Psalmen. Jesus führte ein intensives Gebetsleben. Doch sein Gebet beschränkte sich nicht auf den Wunsch nach stiller Vertrautheit mit dem Vater, sondern hing auch mit seiner Sendung zusammen. Das geht aus den vierzig Tagen hervor, mit denen er sich in der Wüste mit Gebet und Fasten auf seine Sendung vorbereitete.
Das Gebet ist Mittelpunkt allen geistlichen Lebens und eine Zeit, wo Gott sich uns durch den Heiligen Geist mitteilt. Das bedeutet, dass wir im Gebet Gott begegnen, mit ihm sprechen und in einen Dialog eintreten können. Das Gebet ist der Weg, auf dem wir der Liebe und der Freundschaft mit dem Vater durch Jesus Christus im Heiligen Geist begegnen.
An seinem Beten zeigt sich, dass ein Christ wirklich glaubt, sich erlöst weiß und aus diesem Vertrauen auch lebt. Es ist der unmittelbare und charakteristische Ausdruck seines Glaubens, seiner Sehnsucht nach dem Heil Gottes. Beten geht von der persönlichen Erfahrung aus und ruft in Erinnerung, was war, ist und was heute auf einen zukommt und warum, damit sich so das Gottes Heil im Menschen voll entfalten kann.
Das Gebet verbindet uns mit dem Willen Gottes, der sich dann in einer Sendung verwirklicht. Alle Bitten, die ausgesprochen werden, betreffen das Reich Gottes, das dabei ist, Wirklichkeit zu werden. Durch das Gebet helfen wir mit, dass es Wirklichkeit wird. Im Gebet verbinden wir uns mit dem, um was wir bitten, nehmen Teil am selben Willen Gottes. Das verlangt, dass das Gebet keine Flucht aus einem bestimmten Auftrag sein darf und dass es aus ehrlichem Herzen kommt.
Ein so gestaltetes Gebet bleibt nie ohne Wirkung, da es zur Annahme des Willens Gottes führt. So ist das Gebet vor allem Ausdruck der Sehnsucht nach dem Reich Gottes und in dem Maß unserer aktiven Teilnahme an der Verwirklichung dieses Reiches nimmt es zugleich dieses Reich vorweg, damit Gott alles in allem sei. Im Gebet bringen wir unsere Schwächen und unsere Armut zum Ausdruck. Es ist aber auch eine Gelegenheit, zu Gott von unserer Liebe zu sprechen und sie ihm zu zeigen.
Der hl. Paulus beleuchtet sehr gut die Rolle des Heiligen Geistes im Gebet, das uns mit dem Leben Gottes erfüllt. Der uns durch Christus – in seinem Namen – zum Vater beten lässt, ist der Geist, der uns gegeben wurde. „Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater!“ (Gal 4,6).
Es ist derselbe Geist, der uns die Sicherheit gibt, diese Tiefen der Liebe auch zu erreichen, aus der uns Gott ruft. Es ist der Geist der Liebe, den wir empfangen haben (Röm 5,6 ff.), aber um den wir trotzdem bitten sollen (Lk 11, 13). In ihm bitten wir um eine neue Welt und wir sind sicher, dass wir erhört werden. In ihm ist all unser Gebet keine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern im Gegenteil eine Hinwendung zur Welt.
Das Gebet ist ein Gespräch der Liebe und auch die Antwort gehört zum Gebet. Gott kann nicht zu uns sprechen, wenn wir ihm nicht darauf antworten. Gott kann kein Gespräch führen, wenn wir innerlich stumm und taub bleiben. Er erwartet von uns eine Antwort. Sie besteht vor allem in der Übergabe unseres Lebens und Denkens. Wir sprechen zu ihm von unserem Leben, nicht um ihm mitzuteilen, was er ohnehin weiß, sondern um unsere Beziehung zu ihm zu stärken und unsere Gemeinschaft wachsen zu lassen. So können wir uns immer mehr angenommen und verstanden fühlen in dem, was wir erleben, und in dem, was wir sind, und die Erfahrung machen, von Gott immer stärker umgestaltet zu werden. Wir stellen ihm unsere Bedürfnisse vor und bitten ihn um Hilfe. Das Bittgebet ist wichtig, weil es uns bewusst macht, dass wir Menschen sind, die nicht sich selbst genügen, sondern etwas brauchen.
Das Gebet ist eine Begegnung in Liebe. In dieser Begegnung gibt es ein Gespräch, in dem das Wichtigste für den Beter ist, dass er hört. Beten bedeutet, dem zuzuhören, der uns sagt: „Mein Geliebter, meine Geliebte“ (H. Nouwen). Es ist Gott, der uns als Erster ruft; er hat uns erwählt und nicht wir ihn (Joh 15, 16). Das bedeutet, dass das Gebet eine Gabe, ein Geschenk Gottes ist. Gott kommt, um uns in Liebe zu begegnen. Gott ist gegenwärtig. Gebet besteht vor allem darin, den anzuhören, der in uns wohnt, und „zuzulassen, dass unser ganzes Sein diese erste Liebe auskostet“ (H. Nouwen).
Wo das Gebet fehlt, fehlt es auch am Vertrauen auf das Wort Gottes. Wir beten, um unser Vertrauen auf Gott zu bezeugen, wobei wir sicher sein dürfen, dass Er das vollbringen wird, was Er mit seinem Wort versprochen hat, und dass er unser Leben in Fülle segnen wird, mehr, als wir es uns vorstellen können (Eph 3,20). Das Gebet ist auch die beste Möglichkeit, das Wirken Gottes im Leben der anderen zu erkennen.
Jesus sagt: „Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist“ (Mt 6,6). In die eigene Kammer zu gehen bedeutet, in sich zu gehen, das eigene Herz aufzusuchen. Dadurch, dass das Gebet eine Begegnung in Liebe ist, ist das Herz der geeignete Ort für diese Begegnung. Das Herz ist der Mittelpunkt unseres Seins, in dem Gott wohnt und auf uns wartet.
Davon spricht zum Beispiel auch der Prophet Hosea: „Darum will ich selbst sie verlocken. Ich will sie in die Wüste hinausführen und zu ihrem Herzen sprechen“ (Hos 2, 16).
„Das Wichtigste im Gebet“, sagt die hl. Theresa von Avila, „ist nicht viel denken, sondern viel lieben“ („Die innere Burg“, Vierte Wohnung, 1. Kapitel). So wird das Gebet zu einem Dialog der Liebe, einer Begegnung von Herz zu Herz.
Wir beten zu einem persönlichen, lebendigen und anwesenden Gott, der uns liebt. Wir beten zu Gott, der sich uns geoffenbart hat und Vater, Sohn und Heiliger Geist ist und der in uns wohnt. Das tiefste Fundament des Gebets besteht darin, dass die Dreifaltigkeit in uns wohnt. Bitten wir Jesus, dass er uns zum Vater bringt. Wir kommen zum Vater durch Jesus im Heiligen Geist.
Jesus Christus, das ewige Wort, das Fleisch geworden und auferstanden ist, hat einen zentralen Platz im Gebet, dessen Ziel unsere Gleichförmigkeit mit Ihm ist, Kraft des Heiligen Geistes, damit wir als Söhne und Töchter unsere Beziehung zum Vater leben.
Da das Gebet eine Begegnung in Liebe ist, besteht es darin, Jesus anzuschauen, auf ihn zu hören, ihn willkommen zu heißen, sich von ihm formen zu lassen, um ihm immer mehr ähnlich zu werden. Wenn wir auf Jesus schauen, der uns liebt, erwacht in uns unsere beste Seite, die göttliche Schönheit unseres Seins, die von Anfang an in uns wohnt, denn in ihm sind wir geschaffen (Eph 2, 10).
Unsere tiefsten Hoffnungen und all unsere Möglichkeiten stehen in einer Beziehung zu Jesus. Vor allem die, die für uns am wichtigsten sind, entdecken und vertiefen wir in der liebenden Begegnung mit Jesus.
Mit und für die Kranken beten
Das Gebet ist auch eine Möglichkeit, sich mit dem Leid auseinanderzusetzen. Wenn wir krank sind, fällt es nicht so schwer zu beten, zumindest in den gewohnten Gebetsformen. Das Gebet ist für den Leidenden wie ein Geländer, das ihn seine Schwäche leichter ertragen lässt. Das Gebet stärkt den kranken Menschen und gibt ihm Trost in seinem Kampf gegen Leid und Krankheit.
Es ist wichtig, den Wert des Gebetes „mit“ und „für“ die Kranken zu entdecken und es entsprechend zu pflegen. Darin verwirklicht sich nicht nur unser Glaube, sondern auch der „Glaube der Kirche“, der, wenn man den tiefsinnigen Vers von Matthäus (Mt 25,33) frei wiedergeben würde, lauten könnte: „Ich war krank und du hast mit mir gebetet.“
Das Gebet des Kranken hat außerdem einen persönlichen Ausdruck, der seine Situation widerspiegelt. Es bewegt sich von der Bitte zum Lob, vom Sich-Verlassen-Fühlen zur Gemeinschaft, von der Angst zum Frieden, vom Klagen zum Vertrauen ... All diese unterschiedlichen Gefühle werden ganz verschieden gelebt und zur Sprache gebracht.
Das Gebet des Vertrauens: Menschen, die an einer schweren und lang andauernden Krankheit leiden, fühlen sich sehr oft hilflos, konfrontiert mit dem eigenen Schicksal, allein gelassen. Wir wissen aber, dass sich auch in dieser Situation Hoffnung und die Nähe und Liebe Gottes erfahren lassen.
Das Bittgebet: Das Bittgebet ist das spontanste Gebet, besonders in den schwersten Augenblicken der Krankheit. Manchmal findet es seinen Ausdruck in einem Schrei der Verzweiflung, in vielen Fragen ohne Antwort, in Anklage, die fast eine Gotteslästerung sind ..., das Gebet eines Menschen voll Traurigkeit, Zweifel und Vorwürfe.
Das Gebet der Annahme: Dieses Gebet ist eine Frucht des Bittgebets. Angesichts einer aussichtslosen Krankheit, einer Verschlechterung, des nahenden Todes haben wir keine andere Wahl, als die Augen zu öffnen, die Realität anzuerkennen und die Gebrechlichkeit, die Begrenztheit, all das, was uns geschieht, anzunehmen. Das Gebet der Annahme ist ein Gebet der Reife und der Weisheit, möglich für den, der fähig ist, die Realität anzunehmen, und der weiß, dass er eine gebrochene Existenz ist.
Das Gebet der Aufopferung: Das Gebet der Aufopferung ist Ausdruck der Liebe zu Gott, zum Leben, zu den Mitmenschen, zu sich selbst. In der Ergebung und in der Hingabe seiner selbst erreicht der Mensch eine Fähigkeit zu lieben bis hin zur Selbstvergessenheit. So zeigt sich das Leben in seiner ganzen Größe.
Das Gebet vor dem Kreuz: Das Gebet zum gekreuzigten Jesus drückt den Schmerz aus, Einsamkeit, Ergebenheit, Mitleid und Erbarmen. Wenn wir vor dem Kreuz beten und es dabei anschauen, bitten wir um die Nähe und helfende Gegenwart des Gekreuzigten. Der Kranke bittet Christus, den Gekreuzigten, dass er ihm Kraft gebe, seinen Weg erleuchte und dass er vor allem helfe, im Leiden einen Sinn zu finden. Wenn wir das Kreuz anschauen, macht es uns zunächst stumm und betroffen, im Kreuz finden wir aber auch Trost, Ermutigung, Ruhe und Frieden.
Wie können uns diese Gedanken beim Beten helfen?
„Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet. So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf der Erde.
Gib uns heute das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen“ (Mt 6,5–13).
Was sagt Jesus über das Gebet?
Der hl. Kamillus spricht vom Gebet als einer täglichen Praxis. Er selbst widmete sich dem kontemplativen Gebet, sogar bis hin zu mystischen Phänomenen wie der Ekstase. Aber er stellte das Gebet auch auf den rechten Platz. Er machte verständlich, welchen Platz das Gebet in einem Leben haben muss, das ganz den Werken der Nächstenliebe gewidmet ist, wenn er sagt: „Es ist nicht gut, dass die Frömmigkeit der Nächstenliebe die Hände abschneidet. Sie bewirkt, dass die Menschen unbeweglich – wie aus Blei – werden.“ Im Gegenteil, das Gebet muss uns dazu führen, „mehr Herz in unsere Hände“ zu legen. Die Aufgabe des Gebets besteht darin, uns mit Christus zu vereinen, bis zu dem Punkt, dass wir uns mit ihm identifizieren und wie Er handeln, der der Heiler ist, der barmherzige Samariter.
Diese Worte des Kamillus könnten wir vielleicht als typisch für einen ausschließlich an der Praxis orientierten Menschen ansehen, aber sie sind in Wirklichkeit Worte eines Mannes mit einem tiefen Gebetsgeist. Sie laden zu einer kritischen Selbstüberprüfung ein, um die Glaubwürdigkeit unseres Gebets, das sich immer in Werken der Nächstenliebe erweisen muss, zu überprüfen. Wenn ein Gebet nicht dazu führt, kann es unmöglich glaubwürdig sein. Auch in der Zeit des Kamillus gab es äußerst fromme Menschen, die ihr Leben der innigen Vereinigung mit Gott gewidmet hatten, aber die Mitmenschen dabei ausschlossen. Kamillus meinte: „Diese Vereinigung gefällt mir nicht ... Jetzt ist es die höchste Vollkommenheit, dass wir immer Zeit haben, den Armen Gutes zu tun ... und Gott um Gottes willen Gott sein zu lassen“ – den Gott lassen, dem wir im Gebet begegnen, um Gott in den Bedürftigen und in den Leidenden zu finden und ihm in ihnen zu dienen.
Welchen Platz nimmt das Gebet in unserem Leben ein, die wir Mitglieder der Kamillianischen Familie sind?
Großer, erbarmungsvoller Gott, auch ich mache im Gebet oft viele Worte und nehme mir kaum Zeit zu hören. Oft bitte ich um deine Hilfe, ohne mir bewusst zu sein, dass ich dir zuerst danken müsste, weil ich mit Wohltaten überhäuft bin, unter denen deine Liebe das Wichtigste ist. Ich mache den Fehler, dich um kleine Sachen zu bitten, anstatt dich um die wundervolle Gabe zu bitten, dass ich an deinem Leben selbst teilnehmen darf.
Ich bitte dich nicht, dass du mir deinen Namen offenbarst, denn ich sehe ihn überall geschrieben, jedes Mal wenn ich es mir erlaube, still zu werden, meine Arbeit zurückzustellen und dieses mein ruheloses Herz zur Ruhe kommen zu lassen.
Ich bitte nicht um deinen Namen, sondern um deinen Segen und denke dabei an die Worte des weisen Salomon. Als er von dir aufgefordert wurde, um alles Mögliche zu bitten, bat er nicht um Güter und materiellen Reichtum, sondern begnügte sich, darum zu bitten: „Lass mich an deiner Weisheit teilnehmen: Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz.“
Bernhard Häring
© Kamillianer 2013 - [Stand: 16.10.2013] Kapitel 12 Inhaltsverzeichnis zurück Kapitel 14