Ein Brief des Generaloberen Pater Dr. Angelo Brusco zur Vorbereitung auf die Seligsprechung von Pater Rebuschini am 4. Mai 1997.
1. Am 25. Juni 2006 erfolgte in Anwesenheit des Heiligen Vaters die Promulgation des Dekretes der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen, mit dem das Wunder anerkannt wurde, das der Fürsprache von Pater Enrico Rebuschini zugeschrieben wird. Zuvor war der heroische Grad seiner Tugenden verkündet worden.
Durch ein glückliches Zusammentreffen fällt die Seligsprechung unseres Dieners Gottes, die im kommenden Frühjahr stattfinden wird, in das 250-Jahr-Jubiläum der Kanonisation des hl. Kamillus und bietet uns so Gelegenheit, den Widerschein des geistlichen Reichtums des Stifters in einem seiner Söhne wahrzunehmen, die zur Vollkommenheit der Liebe gelangt sind. Während wir uns darauf vorbereiten, dieses große Ereignis feierlich zu begehen, klingen in unseren Herzen noch die freudigen Zeichen und Worte anlässlich der Seligsprechungen von Mutter Giuseppina Vannini und Mutter Maria Domenica Brun Barbantini nach. Dürfen wir darin, dass innerhalb weniger Jahre drei Personen, die sich aus der Spiritualität des hl. Kamillus geistlich genährt hatten, zur Ehre der Altäre erhoben werden, nicht ein besonderes Zeichen der Liebe des Herrn zur kamillianischen Familie erkennen?2. Um das Vorbild der Heiligkeit, das uns von Pater Enrico Rebuschini geboten wird, zu verstehen, muss man sich zunächst, wenigstens andeutungsweise, den von ihm zurückgelegten Lebensweg ansehen.
Am 28. April 1860 in Gravedona (Como) geboren, ersucht Enrico am 15. Oktober 1887 um seinen Eintritt in den Kamillianerorden. Er ist 27 Jahre alt. Sein Entschluss ist das Ergebnis eines langen Weges, der nicht frei von Ungewissheiten und Krisen war. Da er aus einer wohlhabenden Familie stammte, standen ihm beste Möglichkeiten der geistig-intellektuellen Ausbildung (auch wenn er es nur zum Buchhalterdiplom brachte) und der Arbeit offen. Trotz der liberalen und antiklerikalen Neigungen des Vaters wuchs er in einem Milieu auf, dessen Atmosphäre reich an sittlichen und religiösen Werten war, die seine Persönlichkeit entscheidend beeinflussten. Die beruflichen Erfahrungen als Angestellter in einem von seinem Bruder geführten Industriebetrieb und dann als Buchhalter im Krankenhaus von Como vermochten nicht, ihn von jenem Gefühl der Unerfülltheit zu befreien, das bisweilen kritische Akzente annahm. Das lange innere Suchen, das ihm durch den innigen Beistand seitens seiner Mutter und seiner Schwestern sowie durch den Rat vortrefflicher Personen erleichtert wurde, mündete schließlich in den Entschluss, Priester zu werden. Dabei handelte es sich nicht um eine voreilige Entscheidung, denn sie wird ganz von einer gesunden Haltung und einer echten religiösen Orientierung getragen. Man schickt ihn nach Rom zum Theologiestudium an die Universität Gregoriana; er wohnt im Päpstlichen Lombardischen Kolleg. Er erzielt ausgezeichnete Studienerfolge, wird aber von einer schweren Depression heimgesucht; es gelingt ihm jedoch, vollkommen geheilt aus dieser Krise herauszukommen. Nach zahlreichen Zeugnissen „entstand die Berufung und der Entschluss, Kamillianer zu werden, bei Enrico an dem Tag, an dem er die Kirche S. Eusebio in Como betreten und dort das Bild des hl. Kamillus von Lellis ausgestellt gesehen hatte“. Die folgenreiche Wirkung dieser Episode ist nur haltbar, wenn man sie mit seiner Zuneigung zu den Kranken und Armen in Verbindung bringt. In seinem Vorsatz, Mitglied des Kamillianerordens zu werden, bestärkten ihn außergewöhnliche Berater, darunter der Selige Guanella. In Verona kommt Enrico mit einer Gruppe hervorragender Kamillianer in Kontakt. Wir nennen hier nur P. Giuseppe Sommavilla, den späteren Generaloberen des Ordens, und P. Rocco Ferroni. Nachdem Enrico 1887 ins Noviziat eingetreten war, legte er 1889 die zeitlichen und zwei Jahre später die ewigen Gelübde ab. Die Priesterweihe empfängt er von Msgr. Giuseppe Sarto, dem späteren Papst Pius X. Auch in dieser Periode kommt es zu kritischen Augenblicken, die sich in Form von Zweifeln, Gefühlen der Unwürdigkeit und übertriebener Selbstprüfung äußern. Während der Jahre in Verona, bis Mai 1899, hatte er verschiedene Aufgaben. Er war Lehrer, Vize-Novizenmeister, Kaplan am Militär- und am staatlichen Krankenhaus und war nacheinander den Häusern S. Maria del Paradiso, S. Antonio und San Giuliano zugeteilt. Am 1. Mai 1699 übersiedelte P. Enrico nach Cremona, wo er bis zu seinem Tod bleiben sollte. Zwölf Jahre (in dreimaliger Wiederwahl hintereinander) war er Superior und 35 Jahre lang Ökonom der Kommunität von Cremona, auch wenn er sich in den letzten 20 Monaten nur mehr der bescheidenen Verwaltung der Mitbrüder annahm. Das Wirken der Kamillianer in der Stadt des Torrazzo war vielfältig. Hatte es sich zunächst auf das Krankenhaus konzentriert, kamen bald zahlreiche weitere Aufgaben hinzu, wie die Kaplanstelle am Hospiz Soldi (1929), am staatlichen Krankenhaus (1932), am Sanatorium der Sozialfürsorge (1935), die Seelsorge bei den Töchtern des hl. Kamillus, ein intensiver Hausbesuchs- und Betreuungsdienst. Unvorhergesehne Notsituationen mobilisierten die Kamillianer-Kommunität in außerordentlicher Weise: man rief sie um Hilfe an für die Opfer der Cholera (1903), für die Verwundeten des Ersten Weltkrieges (das Krankenhaus war in ein Militärspital umgewandelt worden) und für die Tuberkulosekranken von Val Trompia (1925-30). In alle diese verschiedenen Aktivitäten war P. Enrico unmittelbar eingebunden. Da war die Sorgenlast im Zusammenhang mit der Führung des Krankenhauses, das häufig finanzielle Krisen durchzustehen hatte; große Anforderungen stellte die Sorge um die Kommunität; reiche apostolische Genugtuung war ihm schließlich durch den Seelsorgedienst beschieden. Er blieb den Anforderungen seiner Berufung auch in den schwierigsten Augenblicken treu, wie im Jahr 1922, wo er für die Dauer von vier Monaten neuerlich von einer Depressionskrise heimgesucht wurde. Es war der letzte Angriff des „bedrohlichen Übels“, aus dem er jedoch siegreich herausfand, um für den Rest seines Lebens unbehelligt davon zu bleiben. Die Nachricht vom Tod von Pater Enrico am 10. Mai 1838 wurde von der Lombardisch-Venetischen Provinz und von der gesamten Bevölkerung Cremonas mit großer Anteilnahme aufgenommen. Der Ruf der Heiligkeit, den der Diener Gottes bereits zu Lebzeiten genoss, wuchs nach seinem Scheiden aus dieser Welt. Im Jahr 1947 begann mit dem Informationsprozess der erste Abschnitt eines langen Weges, der nun, am 25. Juni 1996, seinen glücklichen Abschluss gefunden hat.3. Auch wenn die Heiligkeit das Ziel jedes Gläubigen und vor allem jedes/jeder Ordensangehörigen ist, gilt es festzuhalten, dass die Weisen und Möglichkeiten für die Erreichung dieses Zieles tausend Variationen kennen. Ein Beweis dafür ist die Seligsprechung von Pater Rebuschini. In der Person und im Wirken des Pater Enrico mögen wir vergebens nach dem charismatischen Stil, dem „leadership“, der Kreativität und dem emotionalen Überschwang nicht nur des hl. Kamillus, sondern auch vieler anderer Ordensleute suchen, die in den vierhundert Jahren des Bestehens des Ordens das Charisma der barmherzigen Liebe zu den Kranken umgesetzt haben. Vielleicht kommt deshalb bei manchen Mitbrüdern angesichts der Seligsprechung von Pater Rebuschini ein etwas laues Gefühl auf. Demjenigen, der sich bisher einzig und allein am Vorbild des Stifters zu messen vermochte, wird es wahrscheinlich schwer gelingen, der Heiligkeit eines Menschen gerecht zu werden, die derart gewöhnliche, in die normalste Alltäglichkeit eingebettete Ausdrucksformen aufweist. Aber dem Blick dessen, der den Lebensweg von P. Enrico aufmerksam verfolgt, entgeht nicht, dass diese Alltäglichkeit nach und nach heroischen Charakter annimmt und als der Ort erscheint, wo der neue Selige sein Leben als Glaubender im Sinne des kamillianischen Charismas bis zur Vollkommenkeit verwirklicht hat.
In dem Brief, mit dem der Bischof von Cremona, Msgr. Giulio Nicolini, seiner Diözese die bevorstehende Seligsprechung von Pater Enrico ankündigt, lesen wir: „Seine Verherrlichung gewinnt jetzt die Bedeutung eines kraftvollen Ansporns zu evangelischer Sensibilität gegenüber den an Leib und Geist Leidenden und Kranken. Eine Dimension der Zivilisation und Nächstenliebe, die alle, insbesondere die Welt des Gesundheitswesens, mit einbezieht - im Namen der Würde der menschlichen Person, die im Evangelium ihr erhabenstes und beispielgebendes Zeugnis findet.“ Die Verwirklichung des Charismas der barmherzigen Liebe zu den Kranken bildet zweifellos den Ausgangspunkt für die Darstellung der Heiligkeit von P. Enrico. Im Jahr 1890 schrieb er: „Mein Leben verzehren, um meinen Nächsten Gott zum Besitz zu geben, in den Wunden Jesu und in der Liebe Jesu meine Nächsten sehen, mich in allem meinem Tun mit größter Inbrunst für sie einsetzen.“ Bezeugt wird die Treue zu diesem jugendlichen Vorsatz von der von P. Enrico über 31 Jahre lang mit großer Sorgfalt und Klarheit geführte Chronik des Hauses von Cremona sowie von den Aussagen unzähliger Personen, die ihn gekannt haben. In seinem unmittelbaren Lebensumfeld war er dazu berufen, verschiedene Formen des Dienstes eines Kamillianers auszuüben. Bei seiner Amtsführung als Ordensoberer hat er es verstanden, den Umfang und die Qualität des Dienstes an den Kranken sowohl unter gewöhnlichen wie auch unter außergewöhnlichen Bedingungen hochzuhalten. Als er die Aufgabe der Verwaltung eines der vorrangigen „Werke“ des Instituts erfüllte, hat er bewiesen, dass dieser Auftrag zu einem echten Dienst im Sinne des kamillianischen Charismas werden kann. Sein Leben verzehren, um dem Nächsten, in dem er das Antlitz des Herrn erblickt, Gott zu schenken, ist das Ergebnis eines tiefgründigen mystisch-asketischen Weges, der sich im Leben von P. Enrico gut dokumentieren lässt: das intensive, geordnete Gebetsleben; außergewöhnliches Verlangen nach der Eucharistie; eine ständige positive Rücksichtnahme auf die anderen, auch in komplizierten Situationen; die gewissenhafte und abgeklärte Beachtung der Gelübde; eine strenge Selbstdisziplin; die ständige, auch kulturelle Weiterbildung ...Zu diesem Weg gehört auch das Konfrontiert-Sein mit den eigenen Grenzen, das von Rebuschini als sehr schmerzlich, aber auch mit einer großen Fähigkeit zum Eingeständnis dieser Grenzen erlebt wird. Da er nun einmal einen eher introvertierten, schüchternen Charakter mit einer Neigung zur Schwermut hatte, musste er den Preis für diese einschränkenden Züge zahlen. So erteilte er nur widerstrebend Unterricht, vor dem Predigen schreckte er zurück, alles, was mit einem Auftreten in der Öffentlichkeit zu tun hatte, versetzte ihn in Unruhe. Vor allem waren es aber die oben erwähn-ten depressiven Krisen, die ihn so tief erschütterten, dass sie zeitweise seine Haltung gefährdeten. Gefühle persönlicher Unwür-digkeit, Angst vor Verdammung, Strenge bei der Selbstbewertung ... waren für ihn und für die Mitbrüder, die ihn in diesen schwierigen Augenblicken verständnisvoll begleiteten, Anlass zu großer Betrübnis.
Es wäre ein Irrtum zu behaupten, die oben angedeuteten Grenzen stellen ein Hindernis für die Heiligkeit dar. Denn Heiligkeit ist die Vollkommenheit der Liebe, ein Vorhaben des Willens, das auch bei vorhandenen Mängeln in bestimmten Verhaltensbereichen verwirklicht werden kann.
Bei Rebuschini vermochte trotz des dornigen Unkrauts, das von Zeit zu Zeit das Gefilde seines Geistes befiel, die gute Frucht der Heiligkeit zu wachsen. Der von ihm in diesem Kampf errungene Sieg ist nicht chemischen Medikamenten (zu denen er nie gegriffen hat) zuzuschreiben, sondern vielmehr - wie P. Domenico Casera, der zuverlässigste Biograph des Seligen, bestätigt - „dem Beistand, der ihm aus dem Vertrauen zu Gott und aus der heroischen Übung des Gehorsams, der Demut und des Glaubens erwuchs“. Der errungene Lohn kommt in einer menschlichen und geistlichen Reife und in einer heiteren Gelassenheit zum Ausdruck, die ihm erlaubten, so viele wertvolle Eigenschaften - im Bereich der Familie, der Kommunität und des Dienstes - sichtbar werden zu lassen und zur Anwendung zu bringen. Liebe Mitbrüder, der Herr möge uns gewähren, das Ereignis der Seligsprechung von P. Enrico Rebuschini als geeignete Gelegenheit dafür zu erleben, unsere Berufung zur Heiligkeit mit immer größerer Glaubwürdigkeit zu verwirklichen. Von dieser Berufung, „die im persönlichen und gemeinschaftlichen Engagement entfaltet wird, hängen - wie es in „Vita consecrata“ heißt - die Fruchtbarkeit des Apostolats, die Selbstlosigkeit in der Liebe für die Armen und die Anziehungskraft der Berufung auf die jungen Generationen selber ab“ (Nr. 93).© Kamillianer 2009 - [Stand: 01.08.2009] zurück