Europa: ein soziales und religiöses Versuchslabor
Der Beitrag der Ordensgemeinschaften
Vom 6. bis 9. Oktober 2010 fand in Rom das zweijährige Treffen der Leitung des Kamillianerordens mit den Provinzialen statt. Thema war unter anderem die Ordensentwicklung. Einleitend referierte der Generalobere Pater Dr. Renato Salvatore über Europa als „soziales und religiöses Versuchslabor”. Im Folgenden daraus einige richtungweisende Gedanken.
Europa ist in der Welt heute eines der größten Versuchslabore unter freiem Himmel. Und das aus zwei Gründen: Europa ist mit seiner alten und ehrwürdigen Geschichte in gewissem Sinn weiter fortgeschritten als die anderen Kontinente und droht deshalb in Resignation und Nihilismus zu verfallen. Der zweite Grund liegt in der Globalisierung: Vor allem wir in Europa brauchen übergreifende Institutionen, die zugleich der Einheit und der Verschiedenheit, der Regionalität und der Globalität unseres Kontinents gerecht werden.
Dabei wird die Gefahr immer größer, dass wir Europa als ein rein technokratisches Gebilde aufbauen, ohne Seele und ohne eigene Kultur. Die vorherrschende Stimmung auf sozialem, wirtschaftlichem, politischem und religiösem Gebiet ist die Angst vor dem Anderen. Die Geschichte Europas ist aber auch gekennzeichnet durch die Fähigkeit zur „Wiedergeburt”. Es gibt Hoffnung!
Der besondere Beitrag, den die Orden für das Evangelium der Hoffnung leisten können, geht von einigen Aspekten aus, die die kulturelle und gesellschaftliche Gestalt Europas kennzeichnen.
1. So soll die Frage nach neuen Formen der Spiritualität, die heute aus der Gesellschaft kommt, eine Antwort finden in der Anerkennung des absoluten Vorrangs Gottes, wie er von den Ordensleuten durch vollkommene Selbsthingabe und durch ständige Umkehr bezeugt wird.
2. In einem vom Säkularismus und Konsum geprägten Umfeld wird das Ordensleben zunehmend zu einem Zeichen der Hoffnung, indem es nämlich die transzendente Dimension unseres Lebens bezeugt.
3. Auf der anderen Seite wird in der heutigen multikulturellen und multireligiösen Situation nach dem Zeugnis einer aus dem Evangelium kommenden Brüderlichkeit verlangt – ein Kennzeichen gerade des Ordenslebens.
4. Das Auftreten neuer Formen von Armut und Ausgrenzung sollte bei der Sorge um die Ärmsten in unserer Gesellschaft eine Kreativität wecken, wie sie so viele Gründer von Ordengemeinschaften ausgezeichnet hat.
5. Schließlich verlangt der Trend des Sich-Zurückziehens auf sich selbst nach einer Gegenbewegung. Diese besteht in der Bereitschaft der Orden, trotz des zahlenmäßigen Rückgangs den Auftrag zur Evangelisierung in anderen Kontinenten weiter wahrzunehmen.
Abschied vom Ordensleben?
Das Ordensleben in Europa befindet sich in einem höchst kritischen Zustand. In manchen Fällen kann es auch das Aussterben bedeuten. Betrachtet man aber diese Situation aus der Perspektive christlicher Hoffnung, wird sie zum „Kairós”, zu einem gottgeschenkten Augenblick, der uns aufrufen, wachrütteln und zusammenführen will.
Im Blick auf Europa sehe ich es als wichtigste Aufgabe an, sich der neuen Situation, die im Kommen ist oder die wir bereits erleben, zu stellen. Das Wahrnehmen und das Suchen nach neuen Wegen sind heute die neuen Formen der Treue, die die Kirche von uns fordert – eine kreative Treue.
Es ist durchaus möglich, dass das Gefühl eines bevorstehenden Zusammenbruchs, das das europäische Christentum erfasst, in nächster Zukunft eine Gegenbewegung auslöst. Tod und Auferstehung sind nicht nur grundlegende Lehre des Christentums. Sie sind auch ein historisches Modell für die Struktur und die Entwicklung des Christentums und unserer Ordensgemeinschaften. Beim Propheten Jesaja findet sich das hoffnungsvolle Wort: „Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?” (43,19).
P. Dr. Renato Salvatore
© Kamillianer 2010 - 15.12.2010 [Stand: 15.12.2010] zurück